Foto: privat
Ich bin so dankbar, dass ich mit StuttgarTango, mit meiner journalistischen Arbeit, in so viele Leben blicken darf. Meine Interviews mit SchauspielerInnen, MusikerInnen, RegisseurInnen, TänzerInnen und KünstlerInnen - das sind so viel mehr als Film- oder Projektbesprechungen. Es sind Befindlichkeiten, Gewohnheiten, Arbeitsweisen, Familienstrukturen, Sehnsüchte - Geschichten die ich erfahren, veröffentlichen und weitergeben darf. Ich schaue in unterschiedlichste Leben. Ich liebe das. Diese Interaktion, diese Gespräche, diese Interviews. Die Kommunikation und die Begegnung mit Menschen.
Bei all den Einblicken in andere Leben vielleicht die Zeit, einmal einen kleinen Blick in die eigene Familiengeschichte freizugeben. Nicht zuletzt verbunden mit der Hoffnung, historische Tatsachen festzuhalten und zu veröffentlichen. Vorausgegangen sind umfangreiche Recherchen. Gespräche mit dem Patentamt in München sowie mit dem Historischen Deutschen Museum in Berlin. All das gestützt auf Erzählungen direkt aus der Familie.
Zusammengetragen über Jahre ergibt sich ein Bild. Ein Bild, das lange nicht komplett ist. Aber alles was ich schreiben und veröffentlichen werde basiert auf gut recherchierten Quellen. Ob Schriftstücke, Bildmaterial oder Fundstücke aus Antiquariaten und Museen - es ist eine Zeitreise, welche mich in die unterschiedlichsten Gemütslagen versetzt. Immer wieder und wieder. Aber das ist Familie. Das ist Leben.
Warum sind wir wie wir sind? Wie viel unserer Vorfahren steckt auch in uns? Wo sehe ich Familienmitglieder - wo sehe ich mich? Gibt es diesen 'roten Faden' der sich durch Familien zieht? Gibt es Aufgaben, die über Generationen hinweg zu erledigen sind? Was haben unsere Vorfahren dagelassen - mit was sollen oder müssen wir arbeiten? Und, müssen wir das überhaupt?
... müssen wir das überhaupt? Das ist ein wahrscheinlich ganz individueller Ansatz. Wir sind ein Mischwerk, entstanden aus, eben unseren Vorfahren. Wir wären nicht die, die wir sind, ohne sie. Warum sind wir also wie wir sind? Ich habe gelernt, dass der Charakter festgelegt ist. Charakter wird uns mitgegeben. Wie setzt sich mein Charakter zusammen? Eine Frage, die ich, wenn dies überhaupt möglich ist, eventuell mit Gedanken über meine Familie erforschen kann. Doch, wen kannte ich persönlich, wen über Erzählungen?
Ich erzähle von meinem Opa väterlicherseits. Ludwig Graeber - geboren als Ludwig Gräber. Unser Familienname änderte sich mit einigen Lebensjahren meines Opas in Frankreich. Aus ä wurde ae.
Ludwig Graeber
Foto: privat
Das Licht der Welt erblickte mein Großvater in Böhl/Bezirksamt Ludwigshafen - Rheinpfalz am 22. Januar 1895 als Sohn des Bauunternehmers Johannes Gräber III. Auf die Mutter, meine Uroma, versuche ich später einzugehen. Mein Großvater hatte mehrere Geschwister. Ich weiß nicht viel über sie. Taucht man in die Lebensgeschichte ein, erweckt es den Eindruck, dass mein Großvater einen ganz eigenen, selbstbestimmten Charakter gehabt haben muss. Schnell wurde es ihm zuhause zu eng. Nach seiner kaufmännischen Ausbildung bei der Hamburg-Mannheimer in Neustadt ging er im Anschluss zur Direktion nach Mannheim. Ein Jahr später setzte er seine Tätigkeit in Hamburg fort. Ein weiteres Jahr darauf arbeitete er bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs als Büroleiter (Bürovorsteher) in Straßbourg (Frankreich/Elsass). In Kriegszeiten dann, war er bei der Straßbourger Reichsbankhauptstelle angestellt. Mit Beginn der Liquidation im Jahre 1918 und Übernahme sämtlicher Reichsbankstellen in Elsass-Lothringen nach Straßbourg (unter französischer Zwangsverwaltung) war Ludwig Graeber dank seiner ausgezeichneten Französischkenntnissen, einer von nur noch drei deutschen Beamten vor Ort. Nach Beendigung der Liquidation in Straßbourg siedelte mein Großvater im Jahre 1919 nach Wiesbaden über. Mit diesem Schritt sollte mein Großvater Zeit seines Lebens als Unternehmer selbstständig tätig sein.
In Wiesbaden angekommen gründete er ein Lebensmittelkommissionsgeschäft mit einer Einkausfiliale in Rotterdam/Niederlande. Dazu die Übernahme der Generalvertretung der bedeutenden Schmalzsiederei van Stay in Rotterdam für Deutschland und Österreich. Im Jahre 1921 kaufte er Häuser in der Rheinstraße 32 und 27 (samt Hotel - Vogel). Mit einer Betriebsumstellung auf Lebensmittelimport zuzüglich der Übernahme bedeutender Lebensmittelexportfirmen im Ausland setzte er seine Geschäfte äußerst erfolgreich in Wiesbaden und Rotterdam fort. Ludwig Graeber erfindet die Herwa Limonade (Kräuterlimonade - Vorgänger und heute vergleichbar mit dem Almdudler). Doch die Zeiten waren schwierige. Im Jahre 1929 am sogenannten 'Schwarzen Freitag' erlitt er Vermögensteilverluste. In erster Linie in Rotterdam. Doch schlossen sich Türen, stieß er andere auf. Dabei erfand er sich neu. So errichtete er im Jahre 1933 die ELGE Mappenfabrik (EL für L / GE für G seine Initialen LG für Ludwig Graeber) in der Potsdamerstr. 144 in Berlin. Auf seine Erfindung des Eckspanners, Mappe mit Gummizug (bis heute erhältlich) und die Ordnungsmappe mit Fächern (bis heute erhältlich) erhielt er das Patent.
Das Unternehmen erweitert sich. Auf dem Grundstück der Frobenstraße 27-29 in Berlin-Lankwitz stehen ab dem Jahre 1934 das Fabrikgebäude und ein 9-Zimmer-Wohnhaus. Auch das Nachbargrundstück in der Zietenstraße 27 wird in den Komplex aufgenommen. Eine Klischeefabrik mit über hundert Mitarbeitern entsteht zusätzlich. Teilhaber: Freund Arno Scholz (deutscher Journalist, Publizist und Veleger. Die von ihm herausgegebene Tageszeitung 'Telegraf', die er auch als Chefredakteur anleitete, zählte zu den einflussreichsten Zeitungen der Berliner Nachkriegsjahre).
Foto: privat / Ludwig Graeber (links) mit
Arno Scholz (rechts)
Eine eigene Familie entsteht und wächst. Mit seiner Frau Maria hat Ludwig drei Kinder. Meinen Vater Heinz, meine Tante Renate und meinen Onkel Wolfgang.
Foto: privat
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Die Familie lebte gut in Berlin. Ein Kindermädchen betreut den Nachwuchs und kümmert sich um das leibliche Wohl. Die Elge Mappenfabrik boomt und die Geschäfte laufen ausserordentlich gut. Neben der Mappenfabrik besteht auch eine Papier- und Druckfabrik. Verschiedenste Druckprodukte entstehen und werden vertrieben.
Der Zweite Weltkrieg kommt und es fallen Bomben auf Berlin. Auch die Fabriken bleiben nicht verschont. Beschädigung und Brand durch Bomben legen die Produktion teilweise lahm. Mühsam aber mit voller Energie baut mein Großvater die Fabriken wieder auf. Seine Familie hat er Anfang der 1940er Jahre vor dem Krieg nach Österreich in Sicherheit gebracht. Am Attersee wohnen sie in der noch heute bestehenden Villa Biedl. Die Kinder genießen die Zeit am See. Werden sie anfangs für ihren Berliner Dialekt gehänselt schlich sich ein österreichischer Slang in ihre Sprache - welcher ihnen alsbald, zurück in Berlin, erneut das Leben ein bisschen erschwerte.
So war das Leben der Kinder also geprägt von Wasser und viel Natur. Für meine Oma sicher keine einfache Zeit. Allein mit den Kindern im ländlichen Umfeld, die Großstadt vermissend. Doch mein Großvater besuchte die Familie. Wochenendausflüge in die Oper nach Wien spiegelten zumindest ein wenig das 'normale, gewohnte' Leben.
Als der Krieg zu Ende war, wohnte die Familie eine kurze Zeit in Baden-Baden. Wieder in Berlin angekommen lag bekanntlich vieles in Schutt und Asche. Es gibt einige Dokumentationen und Reportagen darüber, wie Kinder in dieser Zeit aufgewachsen sind. Mein Vater sagte immer, welch eine freie Zeit das für Kinder war. Denn die Eltern hatten keine freie Minute um sich ihrem Nachwuchs zu widmen. Viel zu sehr waren sie mit dem, im weitesten Sinne, "Überleben" der ganzen Familie beschäftigt. So waren sie also frei, die Kinder. Die Schule spielte eine untergeordnete Rolle. Räume waren nicht vorhanden und viele Lehrer, im Krieg Soldaten, sind nicht oder verwundet und versehrt aus dem Krieg zurückgekehrt.
Meine Familie war stets in der Wirtschaft verankert. Nie in der Politik. So gehörte mein Großvater keiner Partei an. Auch in den Krieg ist er nie gezogen.
Ein intellektuelles Leben und dieser Freiheitsgedanke spielte damals wie heute eine große Rolle. Mir ist beispielsweise überliefert, dass mein Opa sehr viel Zeitung gelesen hat. Mehr noch, er hat die Ausgaben fein säuberlich aufgehoben und gesammelt. Ganze Papierstöße fanden sich.
Wie mir mein Vater einmal erzählte, wäre auch er gerne Journalist geworden. Um zeitlich vorzugreifen - Papa verbrachte Stunden, Wochen, Monate vielleicht sogar Jahre in öffentlichen Bibliotheken. Er hat sich auf diese Weise viel Wissen angeeignet, angelesen. Themenübergreifend. Weltoffen, belesen, gebildet blickte er in die Welt. Sah sie mit all den schönen aber auch schattigen Seiten. Er wurde zum Weltbürger, zum Cosmopolit. Ein Mann, der 'die Welt gesehen, in ihr und mit ihr gelebt hat'. Er bewegte sich, wie selbstverständlich, mit den gegebenen Situationen. Fügte sich in sie ein. Wie ein Chamäleon. Sich der Länder, der Menschen anpassend, mit ihnen lebend. In allen Ländern, auf allen Kontinenten zuhause. Und wenn ich gerade so schreibe - Papa war auch in der Musik zuhause. Im Nachkriegs-Berlin mit Amerikanern aufgewachsen, versank er förmlich im Jazz. Liebte und lebte ihn. Was für eine aufregende Zeit das gewesen sein muss. Prägend, weitergebend - an mich, mit Papa's Jazz aufwachsend. Er kannte viele der kleinen Jazzclubs in New York, Manhattan. Dort wo sie zusammenkamen, die talentierten Musiker, aus den verschiedensten Schichten, sich mit Zigaretten, Alkohol und der ein oder anderen Droge in die Melancholie stürzend. Auch hier fügte er sich in die Szenerie ein. Nicht als Tourist. Als Musikliebhaber, als New Yorker - den Beat genießend. Mit einer Zigarette im Mundwinkel und einem Glas Whiskey in der Hand.
Sich in der Familiengeschichte verlieren, bedeutet sich über einen langen Zeitraum intensiv mit der Geschichte der Familie, der Vorfahren auseinanderzusetzen. Sie zu erforschen, sie zu suchen, sich anzunähern. All die Namen, all die Verzweigungen. Wie viele Geschwister hatte mein Opa Ludwig Graeber eigentlich? Was haben sie gemacht? Wie viele Familien haben sich aus ihnen entwickelt? Ich hab die Namen gefunden. Im Landesarchiv in Speyer und beim Genealoge Winfried Seelinger. Er hat ein Buch verfasst. In diesem Buch, all die Familien aus Böhl. All die Verzweigungen, all die Namen. Mit ihm konnte ich in eine intensive, schöne Korrespondenz gehen. Seelinger stammt selbst aus Böhl, wie auch seine Vorfahren. Ich habe gelernt, dass viele Böhler Familien über Generationen in Böhl geblieben sind. So auch die Vorfahren meines Opas Ludwig Graeber. Und somit auch ein Teil meiner Vorfahren. Meine Recherchen, die ich dank Winfried Seelinger betreiben konnte, führten mich bis ins Mittelalter zu "Hans der Alte" um 1510. Ich bin mehrere Male nach Böhl gefahren. Hab die Straßen und Wege auf mich wirken lassen. Die Gebäude, die Kirchen, die Schulen. Orte an denen meine Vorfahren lebten und ihre Zeit verbrachten. Orte an denen sie miteinander gespielt und gelernt haben, sich stritten und liebten.
Ein bisweilen seltsames Gefühl, welches sich da über mich legte. Etwas zog mich an um mich zeitgleich auch wieder wegzudrücken. Da stand ich also in der sogenannten Gräberstraße. Der Straße, wo die Familie größtenteils lebte. Kerzengerade fräst sie sich entlang an den unzähligen, kleinen Einfamilienhäuschen, die bei genauem Betrachten alle nahezu gleich aussehen. Woher dies rührt? Die Familie Gräber war über Generationen im Baugewerbe. Fertigte Häuser. Die Baufirma im Ort Verwandschaft, zurückzuführen auf einen Bruder meines Opas. Mein Opa hatte zehn Geschwister. Sieben Brüder und drei Schwestern. Fünf Geschwister starben bereits im Kindesalter. Darunter auch alle drei Mädchen.
Wie ich so da stehe, mitten auf der Gräberstraße, spüre ich die Pferdefuhrwerke von damals an mir vorbeirauschen. Meine Pferde, meine Pferdestärken, mein Auto steht rechts neben mir. Ich spüre das damalige Leben in schwarz/weiß. Es muss schwer gewesen sein. Ich durfte Einblicke in das damalige Leben haben. Die Straßen waren von Wasserpfützen durchzogene staubige Wege, wie mir Fotos zeigen. Ich bin mir nicht sicher, ob und wie sich der Ort verändert hat. Es schwingt immernoch etwas von damals mit. Daran können auch die heute betonierten und asphaltierten Straßen nichts ändern. Die Zeit ist stehengeblieben.
Überall begegnen mir die Namen meiner Vorfahren. An Klingelschildern oder auch in Stein gemeiselt über Eingangstüren oder in alte Holzbalken an Wohnhäusern eingehämmert. Wie es scheint - für die Ewigkeit.
Zurück zu meinem Großvater, Ludwig Graeber. Er war es, der die Geschichte, die Lebenslinien änderte. Für sich selbst. Für uns. Vielleicht prägte er sie auch, durch seinen so eigenen Charakter. Er entfloh der Tristesse. Dem Leben, das ihm wie vorgezeichnet erschien. Ludwig war ein Entdecker. Ein Erfinder. Ein Macher. Einer, der nicht genug bekam. In vielerlei Hinsicht, wie mir berichtet wurde. Er hat die Angebote, die ihm das Leben präsentierte angenommen. Die Zugaben des Lebens genossen.